Antwort auf Jonathan: Zur Erneuerung staatlicher Souveraenität im pandemischen Ausnahmezustand Mit der „autonomen Selbstorganisation“ im Sinne des „libertären Sozialismus“ gegen die Covid-Pandemie vorgehen?

Politik

Wer das von Jonathan vorgetragene Votum für „autonome Selbstorganisation“ und „libertären Sozialismus“ begrüsst, könnte sich Rechenschaft ablegen vom bescheidenen Stand der sozialen Kräfte, die gegenwärtig für dieses Ziel eintreten.

U Rotes Rathaus.
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U Rotes Rathaus. Foto: Mario Sixtus (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

23. Dezember 2020
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Unter dieser Voraussetzung und unter der Bedingung des schnellen Handlungsbedarfs angesichts einer Pandemie stellt sich die Frage: Wer sonst als der bürgerliche Staat kann deren Bekämpfung in der Schweiz oder in Deutschland 2020/2021 koordinieren, finanzieren und organisieren?

Jonathans Plädoyer für „autonome Selbstorganisation“ im Sinne des „libertären Sozialismus“ bleibt blass und widersprüchlich. Eibisch imponiert, das „aktuell jeder Kindergarten, jede Schule, jedes Krankenhaus, Seniorenheim, Sozialzentrum und Bürgeramt, jedes Geschäft, Restaurant und Unternehmen damit b e a u f t r a g t (wird), empfohlene und a n g e o r d n e t e Präventionsmassnahmen einzuführen. Deren U m s e t z u n g geschieht in der Praxis notwendigerweise äusserst kreativ und mehr oder weniger selbstorganisiert“ (Sperrsatz von mir – MC).

Die lokale Umsetzung der von oben vorgegebenen Massgaben und deren Feinabstimmung mit den Gegebenheiten der konkreten Situation sind etwas grundsätzlich anderes als „autonome Selbstorganisation“ im „libertären Sozialismus“. In der Debatte um die tatsächliche Verbreitung „neuer Produktionskonzepte“ wird diskutiert, ob sie ein hoffnungsvolles Anzeichen für die Überwindung der Unterordnung der Arbeitenden im kapitalistischen Betrieb bilden.

„Neu“ sind sie insofern, als „sich das Management darauf ‚beschränkt‛, den weiteren Rahmen (die technische Ausstattung, strategische Prioritäten etc.) festzulegen und spezifische Ziele vorzugeben (Umsatz, Erträge, Kosten, Termine u. ä.). Die konkrete Bearbeitung wird weitgehend dezentralen Einheiten und in letzter Konsequenz den Beschäftigten selbst überlassen. ‚Macht was ihr wollt, aber seid profitabel‛, so lautet die zugespitzte Parole“ (Dieter Sauer: Arbeit im Übergang. In: Grundrisse Nr. 48, Wien 2013, S. 42).

Das Management behält das Heft in der Hand durch „zentralistische Dezentralisierung“ oder „bürokratische Entbürokratisierung“, „fremdorganisierte Selbstorganisation“ oder „gemanagte Partizipation“ (Harald Wolf: Arbeit und Autonomie. Münster 1999, S. 154). Das ist ein Argument dagegen, die lokale Selbstorganisation zu überschätzen. Dieses Argument bietet keinen Grund dafür, solche Selbstorganisation als möglichen Ansatzpunkt von Widerstand gegen höhere Stufen der Hierarchie zu unterschätzen.

Zugleich hat die Delegation von Umsetzungsbefugnissen allerdings auch immer den Pferdefuss, dass die Leute an der Basis nun die Optimierung eines kapitalistischen Arbeitsprozesses oder das Zurechtkommen mit knappen Ressourcen (z. B. im Gesundheits- oder Bildungswesen) sowie die Disziplinierung der Kollegen zu effizienter Arbeit sich selbst zur Aufgabe machen sollen.

Eibisch nimmt nicht Stellung zu dem ungelösten Problem, wie sich eine gesamtgesellschaftliche Vernetzung und deren Gestaltung bei „autonomer Selbstorganisation“ denken lässt. Zu den für den vom „libertären Sozialismus“ propagierten Konzepten von Lokalismus, Dezentralisation und Föderalismus (vgl. Meinhard Creydt: Auseinandersetzung um Konzepte für die nachkapitalistische Gesellschaft).

Die Selbstorganisationsfähigkeiten von Belegschaften einzelner Betriebe und Organisationsabteilungen laufen an den organisatorischen Notwendigkeiten hoch vernetzter und bewusst zu koordinierender Prozesse auf. André Gorz, der bekanntlich kein Staatsfan war, hat auf diese Grenzen eines „Selbstverwaltungssozialismus“ schon vor 40 Jahren in seinem Buch „Abschied vom Proletariat“ hingewiesen.

Bahn und Post funktionieren allein als Koordination hoch arbeitsteiliger und sehr eng miteinander verkoppelter Prozesse. Ähnliches gilt bspw. für Betriebe, die regelmässig Produkte von Zulieferern weiterverarbeiten oder selbst auf Zulieferer bzw. auf anderweitig mit ihren Arbeitsprozessen eng verzahnte Anschlussleistungen angewiesen sind.

Jonathan nimmt Anstoss an meinem Argument, das die Legitimität des Staatshandelns in Sachen Corona-Eindämmung gegen dessen prinzipielle Bestreitung seitens anarcholiberaler Bürger herausarbeitet. Deren Parole lautet: „Der Staat darf sich nicht in mein Privatleben einmischen und schon deshalb lehne ich die Verhaltensregeln angesichts der Covid-Pandemie ab.“

Dass ein Staatshandeln in einer bestimmten Situation und gegenüber einer bestimmten Gefahr legitim sein könne – an diesem Gedanken kann Eibisch nur den Einstieg in den Ausstieg aus jeglicher Staatskritik entdecken: Wer dem Staat den kleinen Finger reiche, werde mit der ganzen Hand auf die Affirmation des Staats und seines Handelns insgesamt und überhaupt festgelegt.

Dass Regierungen z. B. in Ungarn oder China die Covid-Pandemie nutzen, um ein autoritäres Regime zu stärken, ist bekannt. Warum diese Gefahr in Deutschland oder der Schweiz gegenwärtig unsere Hauptsorge sein soll, müsste begründet werden. Der Hinweis von Eibisch auf die Corona-Warn-App ist dafür kein gutes Beispiel. Der Chaos-Computer-Club neigt nicht dazu, Überwachungsgefahren zu unterschätzen. Er hat die Corona-Warn-App nicht abgelehnt.

Jonathan stellt die Affirmation des Staates als zentrales Hindernis für die Entwicklung von Kräften für eine nachkapitalistische Gesellschaft dar. Er klammert damit relevante Hindernisse aus, die sich nicht auf das Verhältnis zum Staat beziehen. Es handelt sich u. a. um die Spaltungen und Gegensätze in der Bevölkerung, um das Interesse der Lohnabhängigen am Erhalt ihres Arbeitsplatzes, um die Angst vor einem Desorganisationsschock bei grundlegender Veränderung und um die Dilemmata des Reformgradualismus (vgl. Was blockiert die Gesellschaftstransformation?)

Eibischs Erörterungen emanzipieren sich schnell vom Thema meines Artikels. Diese Herangehensweise ist nicht untypisch für Anhänger des „libertären Sozialismus“. Egal welches Thema gerade aufgerufen wird: Anarchisten sehen den Dreh- und Angelpunkt für alles in der mangelnden Kritik an Staatlichkeit. Situationisten haben das schon vor 50 Jahren treffend bemerkt. (Sie stehen nicht im Ruf, Freunde der Staatlichkeit zu sein.)

Der Anarchismus ist „die Ideologie der reinen Freiheit, die alles gleichmacht und jede Vorstellung eines geschichtlichen Übels beiseite schiebt“ (Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels 1971, § 92). Der Anarchismus bildet das einfache Gegenteil jeder Teilforderung und stellt sich auf den Standpunkt „der Fusion aller Teilforderungen. […] Doch da diese Fusion im Absoluten, der Laune des Einzelnen entsprechend und vor ihrer tatsächlichen Verwirklichung gesehen wird, hat sie den Anarchismus auch zu einer nur zu leicht feststellbaren Zusammenhangslosigkeit verdammt.

Der Anarchismus hat nur in jedem Kampf seine gleiche einfache totale Schlussfolgerung zu wiederholen und erneut ins Spiel zu bringen, denn diese erste Schlussfolgerung war von Anfang an mit der vollständigen Vollendung der Bewegung gleichgesetzt worden“ (Ebd.). Wer sagt, er wolle alles, der sagt es auch, „weil er in Wirklichkeit, ohne jede Hoffnung, das geringste wirkliche Ziel zu erreichen, nicht mehr will, als wissen zu lassen, dass er alles will, in der Hoffnung, dass jemand auf Anhieb seine Versicherung bewundert“ (Guy Debord, Gianfranco Sanguinetti: Die wirkliche Spaltung der Internationale. Düsseldorf 1973, S. 55).

In meinem Artikel ging es um diejenigen sozialen Kräfte, die die Seuche zum Anlass nehmen, ihren Anarcholiberalismus zu propagieren. Artikuliert werden sie von den Querdenken-Bullshittern, von der AfD und Teilen der FDP. Die entsprechenden Vorstellungen von egoistischer und egozentrischer Freiheit haben mit Vorstellungen von „libertärem Sozialismus“ nichts gemein, so lässt sich zumindest hoffen. Deshalb bleibt unverständlich, warum Jonathan von dem Thema meines Artikels auf ein ganz anderes Thema („autonome Selbstorganisation“ im Sinne des „libertären Sozialismus“) kommt.

Jonathan wirft meinem Artikel auch in einem anderen Punkt vor, dass er nicht das zum Thema macht, was ihn, Jonathan, interessiert. Die von ihm gewollte Diskussion über Mängel der staatlichen Politik(en) gegenüber der Corona-Pandemie lässt sich führen. Für das Thema meines kurzen Artikels erschien mir diese Diskussion nicht erforderlich. Diese Mängel sind es nicht, die die Querdenken-Bullshitter motivieren. Ihre Vorbehalte setzen auf einer ganz anderen Ebene an.

Ebenso wenig erschien mir für die Kritik an ihnen eine Ausführung meiner Überlegungen zu einer anstrebenswerten nachkapitalistischen Gesellschaft notwendig. Vgl. dazu meinen Band „46 Fragen zur nachkapitalistischen Gesellschaft“ (Münster 2016) und die 50seitige Broschüre „Was kommt nach dem Kapitalismus“ (Berlin 2019). (Das Inhaltsverzeichnis beider Publikationen findet sich auf www.meinhard-creydt.de)

Meinhard Creydt